Vor kurzem fand ich im „Neu eingetroffen“-Regal der Bücherei einen seltsamen Band, den ich nicht mehr aus der Hand legen konnte. Das ist insofern erstaunlich, als es ein ursprünglich auf Englisch erschienenes Buch ist, das ich normalerweise nicht auf Deutsch, sondern im englischen Original lesen würde. Die von mir sehr geschätzte kanadische Autorin Margaret Atwood und der US-amerikanische Thriller-Autor Douglas Preston als Herausgeberpaar haben 36 ganz unterschiedliche Autor:innen gebeten, kurze Geschichten zu schreiben, die über eine Rahmenhandlung zu einem Roman verknüpft werden sollten.
Vierzehn Tage (Orig. Fourteen Days) spielt in New York im April 2020 im Lockdown. Für mich der erste Corona-Roman. Halt! Lassen Sie sich von dieser Einordnung nicht abschrecken!
Als berühmtes altes Vorbild diente Bocaccios Decamerone, in dem eine Gruppe von Adeligen während der Pest auf ein Landgut fliehen und dort einander Geschichten erzählen. Hier jedoch sind wir in einem schäbigen Wohnblock in New York in einer Gegend, in der die Nachbarhäuser bereits abgerissen sind und dieser Block wohl auch bald drankommen wird, damit teurere und höhere Häuser dort gebaut werden, mit denen man mehr Geld verdienen kann. Doch vorerst wohnen noch ein paar Leute dort. Wenige Wochen zuvor ist eine neue Hausmeisterin mit angedeuteter düsterer Vergangenheit eingezogen. In der schäbigen Hausmeisterwohnung im Souterrain findet sie Aufzeichnungen ihres Vorgängers über die verschiedenen Hausbewohner:innen. Da sie wegen des Lockdowns nicht mehr aus dem Haus gehen kann und will, erkundet sie das Haus genauer und findet den Zugang zum Flachdach und dort unter einer Plane eine Chaiselongue, auf der sie es sich bequem macht. Bald entdecken andere Hausbewohner:innen das Dach als Möglichkeit, Luft zu schnappen, ohne mit der Allgemeinheit in Berührung zu kommen. Sie tragen Sitzgelegenheiten hinauf und platzieren sich im Sicherheitsabstand von 1,5 m allabendlich dort. Um 19 Uhr machen sie wie viele Lärm mit Töpfen und Gejohle, um dem Gesundheitspersonal zu danken und danach beginnen sie, Geschichten zu erzählen. Erst zögerlich oder als Beweis/Gegenbeweis für eine Bemerkung, aber bald sorgt ein selbsternannter Zeremonienmeister dafür, dass jede und jeder einmal drankommt. Die Geschichten sind kurz und sehr unterschiedlich, schließlich läuten die Glocken der nahen Kirche um 20 Uhr das Ende der Zusammenkunft ein. Aber jede Geschichte erzählt etwas über das Leben der erzählenden Person oder über etwas, das ihr wichtig erscheint, auch wenn es ihr nicht selbst passiert ist.
Die Geschichten werden zum Ende hin immer wilder, der clevere Trick, mit dem der Roman endet, wird hier nicht verraten.
Die große Anzahl an Personen in dem Buch mag ein bisschen verwirren, aber die einzelnen Geschichten sind kurz, spannend und die Beobachtungen der Hausmeisterin helfen dabei, die Hausbewohner:innen zu unterscheiden.
Was den Roman mit der Pandemie verbindet, sind letztlich zwei Themen: Das eine ist der Widerspruch zwischen der von der Pandemie geschürten Angst vor Nähe und der Sehnsucht nach Kontakt mit anderen Menschen. Das andere ist ein Thema, das Margaret Atwood bereits in ihrem Roman Oryx und Crake aufgegriffen hat: Welche Geschichten bleiben von uns, wenn wir nicht mehr sind?
Brigitte Scott